Lesetipp: Synchronicity

Von Sharon Dodua Otoo
Erschienen 01.08.2014 bei edition assemblage
Genre: Afrofuturismus
ISBN: 978-3-942-88574-4

Auf der Schwarzen britischen Autorin Sharon Dodua Otoo ruhen derzeit die Augen der deutschen Literaturszene: Sie lebt in Berlin, schreibt auf Englisch und Deutsch und erhielt 2016 den Ingeborg-Bachmann-Preis. Ihre beiden Novellen „the things i am thinking while smiling politely“ und „Synchronicity“ erschienen zunächst auf Englisch bei der edition assemblage und sind auf Deutsch unter anderem als Sammelband bei Fischer erhältlich.

Otoo selbst bezeichnet „Synchronicity“ als Afrofuturismus: Die Grafikdesignerin Cee verliert in der Adventszeit, in einem grauen Winter in Berlin, nach und nach die Wahrnehmung von Farben. Von ihrer Mutter weiß sie, dass dies passieren würde, denn ihre Ahnenlinie besteht aus Frauen, die in der Isolation leben, irgendwann ohne Beteiligung einer zweiten Person eine Tochter gebären und schlussendlich ihre Farbwahrnehmung verlieren. Doch das ist nicht das Ende der Geschichte: Cee weiß bereits, dass ihre Farben durch einen Polysinn ersetzt werden, eine Art psychosomatische Ganzkörperfarbwahrnehmung. Als Grafikdesignerin versucht sie, sich mit HTML-Farbcodes über Wasser zu halten, während ihr ihre Farben entgleiten. Besonders der Verlust der Wahrnehmung ihrer Hautfarbe schmerzt, doch als ihr Polysinn ihr nach und nach jede Farbe ersetzt, eröffnet sich Cee eine ganz neue Welt.

Die Künstlerin Sita Ngoumou hat mit dem Text harmonierende, nachdenkliche Illustrationen zu „Synchronicity“ beigetragen. „Synchronicity“ schreckt nicht davor zurück, die im deutschsprachigen Raum so seltene Brücke zwischen der sogenannten „E-Literatur“ und der Phantastik zu schlagen. Es gelingt ihr mühelos, der phantastische Unterbau entfaltet sich auch in der Kürze und lässt Lesende mit dem Wunsch zurück, dass die Literaturszene durchlässiger werden möge.

Sharon Dodua Otoo hat eine Rede zu den Literaturtagen 2020 in Klagenfurt gehalten, die großartig von Vielfalt und Veränderlichkeit in Sprache und Literatur spricht und dabei gängige Vorurteile à la „Political Correctness/Gendern/das Benutzen von Eigenbezeichnungen zerstört die Kunstfreiheit!“ als das entlarvt, was sie sind. Es gibt die nachdrückliche, entschlossene Rede mit dem Titel „Dürfen Schwarze Blumen malen?“ u. a. auf YouTube.

Diese Rezension erschien zuerst in Ausgabe 2 von Queer*Welten.

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Lesetipp: Berlin – Rostiges Herz

Von Sarah Stoffers
Erschienen 15.10.2018 im Amrûn Verlag
Genre: Steampunk
ISBN: 978-3-95869-373-9

In einer Post-Klimawandel-Zukunft liegt ein steampunkiges Berlin am Meer, die Leute dort haben zivilisatorisch nach einem kataklystischen Ereignis noch einmal neu angefangen. Mit den Vibes des 19. Jahrhunderts hat die Stadt zu neuer, aber ganz anderer Größe gefunden, beherrscht von Zuckerindustriellen, Magiertürmen und einer ganz neuen Form von „Maker-Culture“.

Mathilda und Fidelio lieben dieselbe Frau, Rosa, und diese findet von Macarons vergiftet auf ihrem Geburtstag den Tod. Von jenen Macarons, die Mathildas Geburtstagsgeschenk an Rosa waren. Und das auch noch kurz bevor Fidelio Rosa einen Heiratsantrag machen konnte. Mathilda gerät unter Mordverdacht, und im Versuch, ihre Unschuld zu beweisen, kommt sie bald einem Intrigengeflecht zwischen Berlins Erfinder*innen und der zaubernden Elite auf die Spur.

Das Buch funktioniert einfach wunderbar visuell, von Fidelios farbwechselndem Kolibri zu den illegalen Gleiterrennen in der Arena bis zu den steampunkigen Ideen an allen Ecken und Enden und den interessant eingestreuten Details zu Mode und Alltagsleben. Ein weiteres Highlight dieser Zukunft: Heteronormativität ist nicht mehr – zumindest in dieser Hinsicht wiederholt sich das 19. Jahrhundert nicht. (Almost) everyone is gay, und besonders Mathilda ist in ihrer polyamoren Zuneigung zu zwei Frauen sehr facettenreich gezeichnet. Stoffers selbst ist queer und nichtbinär, ihre Protagonistin ist Schwarz. „Berlin – Rostiges Herz“ zeigt mit großer Leichtigkeit, wie Steampunk aussehen kann, wenn es das viktorianisch-wilhelminische Korsett ablegt.

Dieser Lesetipp erschien zuerst in Ausgabe 1 von Queer*Welten.

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Lesetipp: Von Rache und Regen I : Regentänzer

Erschienen 2019 im Traumtänzer Verlag
ISBN: 978-3-947031-26-9

Nach ihrer Science-Fiction-Dilogie „Blind“ und „Blau“, in der Annette Juretzki schon einige Register in Sachen Weltenbau gezogen hat, wendet sie sich in ihrem neuen Zweiteiler, dessen erster Teil 2019 erschienen ist, dem selten „bespielten“ Genre eisenzeitlicher Fantasy zu. Nicht nur das: „Regentänzer“, der erste Band der Dilogie „Von Rache und Regen“ ist ein Zombie-Eisenzeit-Fantasyroman!

Protagonist Riagh gehört zu einem von den imperialen Legionen eroberten Volk und wurde selbst Soldat. Zu Beginn des Buchs ist Riagh bereits mit seinem Ziehbruder desertiert. Dieser starb bei der Desertation, und Riagh schleppt seitdem einiges an Trauer und Zorn mit sich herum. Er ist auf dem Weg zu seiner Ziehschwester und Ver-lobten Anryn, durch sein Heimatland, das nicht nur allgegenwärtig von den Regengött*innen des Landes heimgesucht wird, sondern auch noch von Untoten, denn ein nekromantischer Fluch wurde auf das Imperium und alle von ihm unterworfenen Regionen losgelassen. Auf seinem Weg nach Hause trifft Riagh auf Lynchjustiz – ein paar Fi-scher*innen haben einen Fremden gefunden, der aus dem Reich stammt, das eben diesen Untotenfluch über das Imperium brachte. Riagh hat kaum geblinzelt, da hat er schon zwei Fischer umgelegt (diese anger issues!) und kurze Zeit später einen Nekromanten namens Nuzar als Gefangenen.

Riagh muss sich nicht nur Untoten stellen, sondern auch seinen eigenen Dämonen. Mit seinem Ziehbruder verband ihn mehr als brüderliche Liebe, und zu lesen, wie Riagh sich mit der Schuld um dessen Tod und gleichzeitig mit seiner eigenen internalisierten Queerfeindlichkeit und seinen Gefühlen für Nuzar quält, ist bewegend und hält einige großartig geschriebene emotionale Szenen bereit. Auch die Migrations- und Umbenennungserfahrungen der in Polen geborenen Autorin finden sich im Roman wieder, in dem es auch immer wieder um Dominanzkultur geht und darum, was diese mit von ihr einverleibten Kulturen macht. Juretzki zeichnet Riagh und Nuzar als komplexe und psychologisch interessante (und sehr unterschiedliche) Charaktere, der politische und magische Weltenbau ist interessant und hält immer wieder Twists und Überraschungen bereit. Um den allgegenwärtigen Regen sind ein Pantheon, eine Religion und Kultur und eine Menge Legenden gewoben, die sich tief und organisch gewachsen anfühlen – eine Meisterleistung im phantastischen Weltenbau.

Eine weitere Facette dieser Welt: Nuzar spricht immer im generischen Femininum, was in seiner Kultur und Sprache tief verankert ist und zu einigen Missverständnissen zwischen den ungleichen Protagonisten führt. Juretzki, selbst queer und neurodivergent, hat Religionswissenschaften studiert, was man dem Weltenbau auf die bestmögliche Weise anliest. Für mich nicht nur, aber definitiv auch wegen der mythologischen Verankerungen der kleinsten Erzähldetails ein Highlight aus dem letzten Jahr, das ich gern auf den Shortlists aller Phantastikpreise gesehen hätte!

Aus der Feder von Annette Juretzki stammt auch die Kurzgeschichte „Nebelflor“ in Ausgabe 1 von Queer*Welten.

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Buchtipp: Totes Zen von Jasper Nicolaisen

Cover Totes Zen, Ach je Verlag

Taschenbuch, 152 S., Ach je Verlag, 2020
ISBN: 9783947720439
eISBN: 9783947720446


Es ist ein schmales Büchlein, aber nicht zu unterschätzen. „Totes Zen“ ist ein völlig abgedrehter Fantasy-Trip, voller zerbröckelnder Klischees und Geschichten in Geschichten in Geschichten (und unter Fingernägeln!), bei denen man nach der Lektüre ganz erstaunt ist, dass das alles auf die wenigen Seiten passte. Der Roman wartet mit ebenso coolen wie weirden Ideen auf und führt die Lesenden auf einen als Stream-of-Consciousness verfassten Trip auf eine in sich gedrehte und gewundene Queste durch Fantasy-Tropes ins Ungewisse. 

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Queere Gemeinschaften in der Postapokalypse

Ich habe lange mit einem weißen, cis, heterosexuellen, akademischen Freundeskreis gelebt und mir nichts dabei gedacht. Mir ist gar nicht so richtig aufgefallen, dass Menschen miteinander klumpen. Und zwar nicht einfach so irgendwie miteinander, sondern mit Leuten, die ihnen ähnlich sind und mit denen sie Narrative teilen. Das ist sogar schon in den Untertönen spürbar: Irgendwann wurde mir klar, dass die große Mehrheit meines Freundeskreises nicht nur aus weißen cis-heterosexuellen Akademiker*innen bestand, sondern dass es Akademiker*innen aus nicht-akademischem Elternhaus waren. Wir teilten die Narrative, diesen in den Neunzigern natürlich nur noch latent vorhandenen „Struggle“, oft aus dem dörflichen, ländlichen Raum, manchmal als einzige*r aus der Familie, zur Uni gegangen zu sein.

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