von Annette Juretzki
Wie ein Geist entsteigst du dem Nebel dieses trägen Morgens, der nur Licht statt einer Sonne kennt. Alle sehen zu dir auf. Selbst die Knienden erheben sich, um weniger schutzlos zu sein. Sie weichen zur Seite, als du dich dem Leichnam näherst. Noch immer spricht keiner ein Wort.
Der Mann ist jung gewesen, mit dunklem Haar und breitem Kinn. Die Kleidung besteht aus Filz, wie ihn hier alle tragen, und die großen Hände sind schwielig von der Arbeit. Er hätte jungen Frauen gefallen können, doch das ist nicht, worauf du achtest. Seine Kehle ist zerfetzt und lässt sogar den bleichen Halswirbel hervorscheinen. Aber darüber hinaus ist sein Leib unberührt, keine anderen Wunden zeichnen ihn.
„Das war kein Tier“, sprichst du ohne aufzusehen und spürst doch Misstrauen. „Ein Tier springt nicht an die Kehle, ohne zumindest die Brust zu zerkratzen. Gab es mehr Opfer?“ Du stehst auf und siehst die Männer an. Nur die zornigen halten deinem Blick stand.
„Was geht dich das an?“, platzt es aus dem Ersten heraus. „Was machst du hier?“, springt ihm ein Zweiter bei und auch ein Dritter findet zu seinem Mut: „Was weiß eine Frau schon von Wunden?“
Du bleibst so ruhig wie der Fels im Sturm; wie du es immer tust, wenn die Männer um dich herum beben und zetern. Es hat keinen Sinn, gegen den Orkan anzuschreien, also wartest du auf die Stille im Auge des Sturms: „Ich bin hier, um euren Geist zu fangen.“
Und dann bricht das Gewitter über dir zusammen.
Sie rufen Hexe, beschuldigen dich – wie üblich – schwarzer Magie und des Mordes an drei jungen Männern. Das reicht dir und du legst behutsam die Hand auf die Axt an deinem Gürtel. Schlagartig zieht der Sturm vorbei und bringt den Winter auf ihre Gesichter.
„Drei hat sich der Geist also schon geholt. Wer hat ihn dabei beobachtet?“ Noch nie hat man dir auf diese Frage von selbst eine Antwort geschenkt. Stets musst du sie in den ausweichenden Blicken suchen, die verzogenen Mundwinkel erkennen und auch die rastlosen Finger zu deuten wissen, die Hemdzipfel kneten.
Der unruhigste Mann steht hinter den anderen und selbst im Sturm ist er deinen Blicken ausgewichen. „Wie sah er aus?“, rufst du ihm zu und seine Augenlider senken sich beschämt. Du hast den Richtigen ertappt.
„Sie …“ Die anderen weichen zurück, damit keiner mehr zwischen euch steht. „Es ist eine Frau.“ Länger hält er es im Korridor nicht aus und verlässt gesenkten Hauptes die Menge. Du willst hinterher, doch ein Älterer mit eingefallen Wangen und schütterem Haar stellt sich in deinen Weg. Um seinen Hals liegt eine Kupferkette, die ihn vermutlich zu etwas Besonderem macht. „Wer bist du?“ Seine Stimme trägt mehr Verwunderung als Aggression.
„Ich bin Korja, und ich werde mit dem Geist verschwinden“, sagst du.
Du betrittst die Hütte, ohne zu klopfen, und er beschwert sich nicht. In der Kochnische flackert ein kleines Feuer, das vielleicht einen Topf, aber kaum den Raum wärmen kann. Du setzt dich zu ihm auf den Boden, und ihr starrt gemeinsam in die Flammen.
„Wer ist sie?“
„Sie … war Finna.“
„Gab es einen Mörder?“
„Ja.“
„Wen?“
Er zieht die Knie an, vergräbt das Gesicht in seinen Armen.
„Ihr wisst es nicht?“
Er blickt noch immer nicht auf. „Wir fanden sie vor vier Wochen am Waldrand. Jemand hatte ihren Kopf so hart gegen einen Baum geschlagen, dass der Schädel gebrochen war.“
„Hatte sie auf jemanden gewartet?“
„Ja.“ Endlich sieht er dich an. Das Feuer lässt die braunen Augen rötlich glühen. „Auf mich.“
„Hast du sie erschlagen?“ Deine Stimme klingt unsicher, als fürchtest du, er gestände. Du streckst den Rücken gerade durch, um dein Zögern zu überspielen.
„Wir wollten heiraten … Viele hatten um ihre Hand angehalten, aber mich erwählte sie.“ Seine Augen beginnen zu glänzen, und du schaust an ihm vorbei, denn er verbirgt es nicht. „Diese Nacht hätte unsere erste sein sollen, aber ich war noch nicht bereit dazu. Also ließ ich eine Lilie an unserem Baum zurück, statt Finna zu treffen. Die Blüte als Unterpfand meiner Liebe. Am nächsten Morgen, als wir unsere Verlobung bekannt geben wollten, fanden wir sie tot.“
Er weint, und du verschränkst unsicher die Arme vor der Brust. Du weißt, wie man Männer besiegt, aber hast nie gelernt, sie zu trösten.
„Wann hast du ihren Geist gesehen?“ Deine Frage zerschneidet die Wehmut des Moments und verhilft ihm zu neuer Beherrschung.
„Zum ersten Mal an ihrem Grab. Ich lege jeden Morgen eine Lilie nieder, doch vor sechs Tagen wollte ich früh mit dem Karren zum nächsten Dorf aufbrechen, weshalb ich sie nachts aufsuchte. Nebelschwaden betteten ihr Grab und Raureif kroch über die Erde. Und dann sang der Wind das Lied vom kleinen Bächlein, wie es Finna stets gesungen hatte. Ich legte schnell die Blüte nieder und wollte laufen. Als ich mich umdrehte, stand sie da, bleich wie der Mond. Ihr Kleid war zerrissen, graues Blut tropfte aus ihrem Kopf und zerfiel am Boden zu Asche. Sie griff nach mir, aber ich wich aus. Dann schrie sie so schrill, dass ich dachte, der Himmel würde zersplittern. Ich rannte heim und …“ Wieder verbirgt er sein Gesicht und du erwachst aus deiner Faszination; hattest kaum gewagt zu atmen, während er sprach.
„Und dann?“ Deine Frage klingt harsch, denn Schwäche macht dich unruhig. Du willst endlich gehen.
„Dann verkroch ich mich unter meiner Decke und weinte.“ Er schluckt schwer. „Am nächsten Morgen fanden sie Jurge tot am Bach. Er war der Erste. Und seitdem höre ich jede Nacht, wie sie einen Toten bringt. Und nie traue ich mich hinaus, wenn sie singt, damit ich nicht der Nächste werde.“
Du nickst, auch wenn er dich nicht sieht. „Wer waren die anderen Toten?“
„Alles Verehrer, die sie abwies. Vor jedem Tod erschien sie mir, und der Wind sang ein anderes Lied. Doch selbst, wenn ich sie nicht sehe, spüre ich sie an meiner Seite, als würden kalte Lippen meinen Nacken küssen.“
Du streichst mit der Hand über deinen eigenen Nacken, doch legst sie rasch zurück in den Schoß. Die Kälte schwindet nicht, nur weil sie sich teilt. Nur Ablenkung bedeutet Wärme, deshalb sprichst du wieder: „Vermutlich weiß sie nicht, wer sie erschlagen hat. Deshalb holt sie sich nach und nach die Verdächtigen.“
„Aber weshalb quält sie mich, bevor sie ihre Rache vollbringt?“
Er sieht zu dir, doch du stehst auf und streckst deine steifen Beine zu neuem Leben. Seine Augen haben die Glut verloren, und durch die Tränen glänzt die Haut rot und geschwollen. Er wirkt so warm. Du ballst die Hand zur Faust, denn du willst ihn berühren, doch du gehst stattdessen zur Tür. Als du im Türrahmen stehen bleibst, blickst du nicht zurück. „Vermutlich will sie, dass du ein Mann bist und sie selbst rächst.“ Die Worte schmerzen, als du sie sprichst, denn du weißt es besser.
Der Friedhof liegt so weit abgelegen, dass du das Dorf kaum noch am Horizont erkennst. Morsche Holztafeln ragen wie Gebeine aus dem Boden, als wollten sich die Toten neu erheben. Nur ein Grab ist mit Lilien geschmückt, von einer straffen Blüte bis zum faulenden Flor. Du kniest dich nieder und findest Asche, die sich mit der Erde mischt. Vorsichtig lässt du die Asche in ein Beutelchen rieseln.
Als du dich zum Gehen wendest, siehst du die Blüte hinter einer Tafel verborgen, als hätte sie der Wind herübergeweht. Doch ihre weißen Blätter sind ausgerissen und in den Boden getrampelt. Du reibst eines zwischen deinen Fingern und fühlst die kräftige Struktur. Die Lilie ist erst diesen Morgen gepflückt worden.
Mit grüblerischem Blick steckst du den Blütenfetzen ein und wanderst zurück. Du glaubst schon lange nicht mehr an Zufälle, wenn es um Menschen geht.
Im Dorf haben sich Männer versammelt und ihre Klingen und Knüppel mitgebracht. Der erste zeigt auf dich, kaum dass dein Schatten die Hütten berührt. „Da ist die Hexe, die uns verflucht hat!“ Dann rennen sie los, und du greifst dir die Messer, die in dem Lederband stecken, das über der Hose um deinen Schenkel gespannt ist.
Mit den ersten verfehlst bewusst ihre Köpfe, um die Klingen im Holz der Hütten zu versenken. Doch die Männer verwechseln die Warnung mit Glück und rennen schneller. Also lässt du die nächsten Messer in Beine dringen. Die vordersten Angreifer schreien auf, stürzen und werden zu Stolpersteinen für die, die danach kommen.
Die Menge lichtet sich. Zuschauer und Kämpfer suchen Schutz hinter den Hütten. Einer findet zwar den Mut, eines der Messer zurückzuwerfen, doch es verfehlt dich in weitem Bogen und versinkt im Schlamm.
Am Ende sind es nur noch drei, die dich erreichen und doch respektvollen Abstand halten. Du ziehst deine Axt und bist bereit für ihren feigen Männermut.
Du drehst dich aus der Reichweite des Knüppels, wodurch er in deinen Rücken gerät, und greifst nach dem Arm des Dolchkämpfers. Mit dem Schaft zerschmetterst du seine Hand, damit sie sich öffnet, und rammst dabei die stumpfe Seite deines Axtblattes gegen den Schädel des Knüppelträgers, der dir wieder zu nah gekommen ist. Er taumelt rückwärts, während das Blut aus seiner Nase quillt. Du lässt die gebrochene Hand los und wendest dich dem zu, der noch übriggeblieben ist.
Aber dieser steht nicht dort, wo du ihn vermutest. Leise hat er dich umkreist, um dir das Schwert zwischen die Rippen zu stoßen. Du spürst die Warnung, als sie deinen Nacken wie ein kühler Windhauch küsst, und drehst dich um. Gerade noch rechtzeitig, damit die Klinge an deinem Wams abgleitet, statt es zu durchdringen. Mit einem harten Kopfstoß treibst du den Kerl fort, sodass es auch an deiner Stirn wummert. Doch er ist schnell wieder zum Angriff bereit und auch du hebst die Axt, um Blut zu vergießen.
„Nein, auseinander!“ Du kennst die Stimme, die deinen Kampf stört. Für einen schwachen Moment willst du lächeln und verweigerst dich doch.
Er rennt direkt zwischen euch, schützt die anderen Männer mit seinem Leib, als glaube er, du würdest dich nicht gegen ihn wenden. „Liskolf, Korja, senkt die Waffen!“
Du schenkst ihm einen trotzigen Blick, doch verharrst.
„Ich habe den Ältesten überzeugt, dass du hierbleiben darfst, bis Finna endlich schläft.“ Sein Blick ist sanft wie seine Stimme, doch deine Augen verengen sich, denn du glaubst ihm nicht.
„Was hast du mit ihr zu schaffen, dass du den Ältesten gegen uns aufwiegelst?“ Liskolf stellt auch deine Frage, nur wählt er andere Worte.
„Ich schulde Finna mehr als nur Lilien im Morgengrauen und du liebtest sie doch auch! Willst du nicht für ihr Seelenheil einstehen?“
Liskolf blickt wütend, doch senkt die Klinge. Seine Lippen formen Worte, aber er spricht sie nicht aus.
„Komm mit mir, Korja, dann können wir beraten, was zu tun ist.“ Er lächelt, und du lässt dich von deinen Gegnern fortlocken, auch wenn der Kampf lediglich ruht. Kaum ein Mann lässt eine Frau über sich siegen.
Er führt dich wieder in seine Hütte, wo er einen Topf über das Feuer hängt. Dann setzt er sich an den Tisch, schält Kartoffeln und schneidet sie klein, als hätte er niemanden neben sich. Sein Schweigen ist dir unangenehm, sodass du die Hände unter der Holzplatte knetest. Doch erst nachdem er die Knollen ins kochende Wasser geworfen hat und an den Tisch zurückgekehrt ist, wagst du endlich zu sprechen: „Du hast gelogen.“
„Ich war beim Ältesten.“
„Und, was sagte er?“
Er lacht auf. „Dass man eine frigide Jungfer ins Kloster stecken sollte, statt ihr einen Axtstiel in die Hand zu drücken. Kein Wunder, dass sie auf dumme Gedanken kommt.“ Sein Lachen erlischt in Verzweiflung. „Er will einen Priester holen, der Finna austreibt. Sie sei unrein gewesen und wolle sich nur vor dem Höllenfeuer retten.“
„Warum hast du gelogen?“
Er starrt dich fassungslos an. „Hätte ich denn zulassen sollen, dass du sie alle abschlachtest? Wen Finna nicht kriegt, den holst du dir?“
Du gehst zum Topf, um die Suppe umzurühren; um ihn nicht anzusehen. Es ist schon lange her, dass du einem Mann begegnet bist, der dich weder bekämpfen noch beschützen wollte. Du hast vergessen, was es noch zu sagen gibt, wenn du nichts zu beweisen hast.
Er folgt dir und legt seine Hand auf deine Schulter, nur um sie gleich wieder fortzunehmen, als du aufsiehst. In deinen Augen spiegelt sich Reue. Du misstraust Nähe und vermisst sie doch.
„Ich weiß, dass du den Kampf nicht begonnen hast.“ Er nimmt dir den Löffel ab und rührt selbst. „Liskolf mag keine Fremden – oder einfach alles, was er nicht kontrollieren kann.“
„Er wird wiederkommen.“
„Vermutlich. Aber zum Glück hat dein Axtstiel auch ein Blatt.“ Er lächelt und du erwiderst es. Dann schweigt ihr beide und diesmal ist es friedlich.
„Kannst du Finnas Seele retten?“ Seine Stimme wird ernst.
„Nur, wenn der Mörder stirbt. Aber ich kann ihre Gestalt zerstören, damit sie selbst nicht mehr mordet.“
Er sieht enttäuscht aus, als er zwei Schüsseln holt. Ihr schweigt wieder, als ihr nebeneinander esst.
„Was geschieht mit ihr, wenn sie keine Gestalt mehr hat?“ Diesmal wagt er es, direkt zu dir zu blicken.
„Sie bleibt als Schemen in der Welt, ohne Teil von ihr zu sein. Sie wird sehen können und still wandern, aber niemandem mehr erscheinen können.“
„Du schickst sie also auch in die Hölle?“
Wie recht er doch hat! Aber das kannst du dir nicht eingestehen. „Wenn ich sie nicht aufhalte, werden mehr Männer sterben.“
„Sie hat Frieden verdient!“
Als ob es auch nur eine Frau gibt, die bekommt, was sie verdient! Entweder wird es ihr geraubt, oder sie raubt es der Welt. „Du hast recht. Aber wenn ich ihr keinen Frieden schenken kann, dann diesem Dorf zumindest Sicherheit.“
Er lässt den Löffel fallen und schüttelt wirsch den Kopf. „Du bist also gar nicht hier, um ihr zu helfen.“
„Ich bin hier, um euch zu helfen.“ Denn du hast dich entschieden, die Lebenden über die Gerechtigkeit zu stellen, auch wenn es nur die wenigsten von ihnen verdient haben. So wie du es nicht verdient hattest.
Mit verschränkten Armen mustert er dich und du wirst nervös. „Woher wusstest du, dass du hier einen Geist finden würdest?“
Diese Frage folgt dir wie dein Schatten von Ort zu Ort und stets weichst du ihr aus. Doch heute ist etwas anders. Vielleicht ist er anders.
„Ich kann die Ruhelosen spüren. An manchen Tagen ist es so kalt, als würden mich alle verlorenen Seelen dieser Welt anstarren. An anderen ist es nur dieser Frost, der meinen Rücken hinabfließt und mich so in eine Richtung treibt.“
Sein Blick wird unendlich traurig und verliert jeden Vorwurf. „Hast du sie schon immer gespürt? Warst du noch nie allein?“
Du warst dein ganzes Leben lang allein. Beinahe zumindest. „Es begann, als ich die erste Gestalt erschlug.“ Du stehst auf, denn sein Blick macht dich schwach und unsicher. „Ich bereite deine Hütte vor, falls der Geist heute Abend kommt, und dann überlässt du ihn mir. Sonst wirst du nie wieder allein sein.“ Du nimmst dir eine leere Schüssel und schüttest die Asche hinein. „Kannst du mir eine Lilie bringen?“
Er steht auf, ohne nach dem Grund zu fragen. An der Tür dreht er sich noch einmal um. „Warum fragst du mich nicht nach meinem Namen?“
Du starrst auf dein Häufchen Asche, als bedürfe es jeder Konzentration. Erst als er hinausgeht, wagst du, die Augen zu schließen und tief einzuatmen.
Der Abend schleicht sich rasch heran und bedeckt die Welt mit Finsternis. Du streichst die Paste aus Asche und Blütenblättern behutsam über die Schneide deiner Axt und hoffst, dass die Lilie bedeutend genug für den Geist ist. Jede Seele wirft Anker in diese Welt und diese Ketten machen sie verwundbar. Wenn du dich irrst, bringt die Nacht einen neuen Tod.
Dein Gastgeber ist schweigsam gewesen, seit er mit der Blüte zurückgekehrt ist, und seine Stille zerrt an dir. Du erträgst die Nähe dieses Mannes nicht und vertraust ihm dennoch. So sehr erinnert er dich an einst, dass du fliehen willst. Doch dein Körper flieht nie.
„Ich bin Garvir.“
Du blickst irritiert auf.
„Ich weiß, warum du nicht fragst. Finna ist ein namenloser Geist für dich, und ich bin bloß der Narr, der sie liebte. Aber ich will nicht, dass wir beide nur Schemen sind, die du vergisst, wenn du fortgehst. Ich bin Garvir und liebte Finna. Wir verdienen es, Namen zu tragen.“ Er blickt dich entschlossen an und lässt dein Herz schneller schlagen. Du willst etwas erwidern, doch deine Lippen haben vor langer Zeit vergessen, die richtigen Worte zu formen, also gehst du auf ihn zu. Es fröstelt dich in seiner Nähe, aber du fühlst dich geborgen; ein altbekanntes Gefühl. Du verträgst keine Wärme mehr.
„Garvir, ich …“ Erst jetzt fällt dir der Raureif auf, der den Tisch erklimmt. Erste Nebelschwaden kriechen in den Raum. Schnell greifst du zur Axt, da pfeift auch schon der Wind durch jedes Löchlein. Du kennst seine Melodie; es ist das Lied der wahren Liebe, die jedes Äon überdauert. Du hattest es selbst zur Hochzeit gesungen. Fenster und Türen klatschen den Takt.
Und dann durchschreitet sie die Holzwand, als bestünde das Häuschen selbst nur aus Nebel. Sie glänzt hell wie Sternenlicht, doch ihre Schönheit ist fahl. Du stellst dich ihr in den Weg, doch ihr verzweifelter Blick gilt nur ihrem Geliebten. Sie hebt die Arme, um nach ihm zu greifen, denn heute holt sie ihre wahre Liebe zu sich.
Du greifst sofort an. Erst als du ihre Gestalt zerteilst, als wäre sie nur aus Rauch geschaffen, beachtet sie dich. Ihr silberner Glanz färbt sich rot und die grazilen Finger wachsen zu schwarzen Krallen. Mit einem gellenden Schrei stürzt sie sich auf dich und du schlägst erneut nach ihr. Sie faucht, versucht deine Kehle zu greifen, aber erwischt nur den linken Arm. Du ignorierst den Schmerz und attackierst unermüdlich, bis ihre verzweifelte Gestalt blass wird. Asche rieselt aus ihren Wunden und bedeckt den Boden. Gleich ist es geschafft.
Garvir schreit auf. Sofort blickst du zu ihm und siehst ein verhülltes Wesen über ihm stehen, das seine blutige Kralle aus Garvirs Fleisch zieht. Du erstarrst. Kalte Geisterklauen graben sich in deine Schulter und diesmal schreist du auf. Dennoch schlägst du nicht zurück, sondern rennst zu Garvir, der wie leblos am Boden liegt.
Das Wesen wendet sich dir zu, und du erkennst Liskolfs hassverzerrtes Gesicht, als er sogleich zum Schlag ausholt. Du reißt die Axt hoch – zu langsam. Er zieht dir seine Kralle über die Brust, die sich durch dein Wams hindurch ins Fleisch schneidet. Drei gebogene Messer sind auf einem Gestell an seine Hand gebunden und er führt diese fremdartige Waffe gekonnt. Keuchend lässt du dich zurückfallen und bereitest deinen nächsten Angriff vor. Aber er ist geschickter als deine üblichen Gegner, du kannst nur seinen Arm streifen, während sich seine Klingen in dein Bein schlagen. Du stolperst und fällst auf ein Knie, kannst den Angriff mit der Waffe blocken, doch die Wucht reißt dich um. Er tritt auf deinen Arm, als du vor ihm liegst, damit du die Axt nicht mehr rühren kannst. Du willst ihn treten, doch das schmerzende Bein gehorcht dir nicht.
Er grinst auf dich herab, als er zum Angriff ausholt. Und erstarrt. Schwarze Finger haben sich um seinen Hals gelegt, er ringt nach Luft und dreht sich zum tiefroten Schemen um, der sich langsam aus der Wand löst.
Liskolfs Verwunderung währt nicht lang. Mit der linken Hand packt er Finna an den Haaren und schlägt ihren Kopf immer wieder gegen das Holz, bis von ihr nichts bleibt als ein Häufchen dunkler Asche. Der Mörder ist stets der größte Anker in dieser Welt und in seinen Händen ist ein Geist fragil wie Lilienblüten.
Aber die Zeit reicht dir, um dich zu erheben, und als er sich siegessicher umdreht, wird er von deiner Axt begrüßt. Du spaltest seine Schulter, sodass er die Kralle nicht mehr heben kann. Er bäumt sich dennoch auf, rammt dich mit seinem Körper, aber diesmal verlierst du nicht den Halt. Die Axt kommt auf seinem Rücken nieder, und er blickt ungläubig zu dir auf, als du mit einem letzten Schlag den Hals durchtrennst. Du kamst, um einen Mörder zu vernichten, und das hast du getan. Müde sinkst du zu Boden und fühlst deine Wunden pochen. Dennoch schleppst du dich zu Garvir, der zusammengesackt an der Wand lehnt. Deine Hand zittert, als du nach seinem Hals greifst. Und dann lächelst du.
Der Morgen blickt golden durch die Fenster, als Garvir endlich erwacht. Du hast eure Wunden genäht und deine Sachen gepackt. Eigentlich ziehst du wortlose Abschiede vor, aber diesmal wartest du.
„Finna?“ Seine Stimme klingt schwach, dennoch bist du erleichtert.
„Erlöst – und sie war keine Mörderin. Sie wollte dich nur warnen. Liskolf tötete alle Konkurrenten, bis du dich selbst als Finnas Auserwählten verraten hast.“
Er lächelt kurz, doch wird dann ernst. „Du … gehst?“
„Ich habe keine Lust, für Liskolfs Tod gerichtet zu werden.“
„Er hat uns angegriffen.“
„Das wird mir niemand glauben. Das tun sie nie.“ Du schließt kurz die Augen. Dein grimmiger Ton tut dir leid.
„Diesmal schon. Ich werde für dich sprechen. Bitte, bleib.“ Er lächelt, und du schluckst schwer. Für einen Moment willst du deine Tasche sinken lassen, dich an sein Bett setzen und über sein Gesicht streichen. Dich wieder erinnern, wie sich Wärme anfühlt. Die Vergangenheit ins Hier und Jetzt reißen, wo sie als Wirklichkeit wiedergeboren wird. Doch dann sehnst du die Kälte herbei, und ich gehorche meinem Anker und küsse deinen Nacken, als wäre ich noch immer ein lebendiger Teil deiner Welt.
„Nein, du gehörst Finna.“ Du reibst über die kühle Haut und richtest deinen Kragen auf.
„Finna ist nun frei, also bin ich es auch“, flüstert er, doch du willst glauben, der Wind pfeift ein Lied zwischen den Ritzen.
Du wendest dich ab und verlässt das Dorf, um dich zum nächsten Geist treiben zu lassen. Und ich führe dich auf eine neue Fährte. Vielleicht verstehst du dieses Mal, dass man die Toten ziehen lässt. Oder du findest den Tod, der uns beide erlöst.