All heroes must die

von Elea Brandt

Ödipus war ein Held. Er löste das Rätsel der Sphinx und wurde König von Theben.

Achilles war ein Held. Er tötete den unverwundbaren Kyknos und stritt auf den Feldern von Troja.

Prometheus war ein Held. Er brachte den Menschen das Feuer und ermunterte sie, an ihre eigene Stärke zu glauben.

Joanne K. Rowling war einmal meine Heldin. Sie hat meine Kindheit mit Magie erfüllt und mir die ersten Worte eines Fantasy-Manuskripts entlockt.

Wir alle wissen, wie diese Geschichten ausgegangen sind. Ödipus ermordete seinen Vater und heiratete seine Mutter. Achilles wurde über dem Tod seines Gefährten Patroklos wahnsinnig und tötete den Königssohn Hektor und zwölf trojanische Jünglinge. Prometheus wurde für seinen Hochmut von den Göttern an die Hänge des Kaukasus geschlagen. Und J.K. Rowling nutzt ihre Bekanntheit und ihre Reichweite, um trans* Menschen zu erniedrigen und an den Rand der Gesellschaft zu drängen.

Vielleicht ist der Zeitpunkt gekommen, an dem wir uns fragen müssen, ob es da draußen überhaupt noch Held*innen gibt. Menschen, zu denen wir vorbehaltlos aufsehen können, Menschen, die uns ein Vorbild sind, die uns ein Leitbild im Leben bieten. Ich fürchte, diese Menschen hat es nie gegeben. Wir wollten das nur gerne glauben. Es ist ein schönes Gefühl zu wissen, dass es Menschen gibt, die man vorbehaltlos bewundern kann. Menschen, die uns daran erinnern, was wir erreichen und wie wir die Welt zu einem besseren Ort machen können. Menschen, die uns dazu bringen, alles aus uns herauszuholen und für höhere Ziele zu kämpfen. Aber dieses Gefühl ist auch trügerisch.

Wir erwarten von diesen Held*innen nicht weniger als Unfehlbarkeit und sind dadurch bereit, ihnen einen Vorschuss an Vertrauen und einen Nimbus der unbedingten Glaubwürdigkeit zu geben, der ihnen gefährliche Narrenfreiheit verleiht. Was unsere Held*innen sagen ist gut. Was unsere Held*innen tun ist richtig. Wenn unsere Held*innen Fehler machen, dann war es ein Versehen. Ein Moment der Unachtsamkeit oder – um bei J.K. Rowling zu bleiben – ein „middle-aged moment“. Wie könnten jene, die uns so viel gegeben haben, wie unsere Held*innen, schlechte Menschen sein? Gar rassistisch, queerfeindlich oder einfach nur hinterhältig? Unmöglich. Dafür haben wir sie doch zu Held*innen gemacht, damit sie über all diese Vorwürfe erhaben sind, oder nicht?

Auf unserer Suche nach Held*innen vergessen wir oft eines: Sie sind auch nur Menschen. Menschen mit Fehlern. Menschen mit Charakterschwächen. Menschen mit unangenehmen oder widerlichen Einstellungen. Und sie verdienen es gar nicht, unsere Held*innen zu sein und von uns auf den Olymp der moralischen Unfehlbarkeit gehoben zu werden. Wenn wir ehrlich sind: Diesem Anspruch kann kein Mensch je gerecht werden. Wir tun unseren Held*innen unrecht, von ihnen Unfehlbarkeit zu verlangen. Und wir tun uns selbst damit unrecht.

Als die Debatte um J.K. Rowling begann – mit transfeindlichen Tweets, die sie likte, und dubiosen bis lächerlichen Aussagen über die Diversität in ihren Büchern – war ich auch so naiv. Ich ging davon aus, dass diese Autorin, die ich einmal bewundert hatte, sicher gute Gründe haben würde. Dass die Heldin meiner Kindheit und Jugend niemals ein Mensch sein konnte, der trans* Personen ihre Identität oder ihren Wert abspricht oder sich über queere Menschen und deren Repräsentation lustig macht. Sie hatte sich doch für Diversität und für Kinder in Not eingesetzt. Sie war eine Heldin – oder nicht? Wenn ich Beiträge las, in denen die Harry-Potter-Romane wegen problematischer Inhalte kritisiert wurden, schaltete ich auf Durchzug oder wurde wütend. Ich fühlte mich um einen Teil meiner selbst beraubt und ich fühlte mich selbst angegriffen, immerhin hatte ich diese Person einmal verehrt.

Heute bin ich klüger, nicht zuletzt, weil es so viele mutige Menschen da draußen gibt, die sich von Held*innen nicht einschüchtern lassen und trotzdem bereit sind, ihre Kritik zu äußern. J.K. Rowling hat mich durch die „Harry Potter“-Bücher gelehrt, dass selbst die Kleinsten die Welt verändern können. Dass wir uns für die schwächsten Mitglieder unserer Gemeinschaft stark machen müssen, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen und das „Böse“ zu besiegen. Bis heute sind mir diese Werte in Fleisch und Blut übergegangen, und es macht wich wütend zu sehen, dass die Frau, die sie mir gezeigt hat, selbst nichts davon verstanden zu haben scheint. Ihre Bücher haben mich geprägt, aber heute brauche ich sie nicht mehr. Ich bin über meine eigene Heldin hinausgewachsen.

Im Film „The Dark Knight“ sagt Harvey Dent zu Bruce Wayne: „Man stirbt als Held oder man lebt so lange, bis man selbst zum Bösen wird.“ Es gibt also nur einen Weg: unsere Held*innen müssen sterben. Wir müssen uns lösen von einem überzogenen Held*innen-Mythos, von einem Mythos der Unfehlbarkeit oder der moralischen Überlegenheit bei Menschen, denen wir im wahren Leben nie begegnet sind. Mit denen wir nie ein Bier trinken oder einen Film angucken waren, aber die wir trotzdem auf ein nicht zu erreichendes Podest stellen. Wir müssen damit beginnen, unsere Held*innen zu kritisieren und zu hinterfragen.

Das heißt nicht, dass wir keine Vorbilder haben dürfen, im Gegenteil. Die brauchen wir mehr als dringend. Aber unsere Vorbilder sollten Menschen sein, keine Ikonen. Menschen, die Fehler machen und die sich für ihre Fehler entschuldigen. Menschen, die rücksichtsvoll mit anderen umgehen und sich für andere stark machen. Menschen, die auch mal laut werden und wütend sind. Menschen, die uns die Chance geben, unsere Privilegien und unsere Einstellungen zu hinterfragen und neu zu ordnen. Menschen, die manchmal auch unbequem werden. Menschen, die keine Angst haben, zuzugeben, wenn sie sich geirrt haben. Menschen, die ihre Reichweite und ihre Privilegien nutzen, um Marginalisierten beizustehen. Wir sollten unsere Held*innen nicht an Worten messen, am Unterhaltungswert ihrer literarischen Texte oder an ihren Erfolgen, sondern an den kleinen Dingen, die sie für jene leisten, die keine Stimme haben. Und wir müssen bereit sein, unsere Vorbilder zu kritisieren oder fallen zu lassen, wenn sie uns keinen Mehrwert mehr bieten.

Die Welt wird nur besser durch Taten, deswegen brauchen wir nicht einmal Held*innen in unserem Leben, sondern Kämpfer*innen. Wir brauchen keine Menschen mit Heiligenschein und Krone, sondern solche, die mit uns in den Kampf ziehen würden, wenn wir oder andere Menschen in Not sind. Nicht unbedingt ganz pathetisch mit Schwert und Schild, aber wenigstens mit Mut und Einsatzfreude. Wir brauchen weise Führer*innen, die im entscheidenden Moment wissen, was zu tun ist, aber ebenso, wann sie anderen das Feld überlassen. Wir brauchen Mentor*innen, die uns mit liebevoller Strenge unsere Fehler aufzeigen und uns zu besseren Menschen machen.

Es tut mir nicht weh, J.K. Rowling als meine Heldin zu begraben, denn ich habe neue Held*innen gefunden. Und vielleicht bin ich auch meine eigene Heldin geworden und über mich hinausgewachsen, weil mir Menschen im entscheidenden Moment ein Schwert (oder vielmehr einen Stift) in die Hand gedrückt haben oder sagten: „Ich bin da – ich unterstütze dich“.

Hephaistos erschlug den Göttervater Zeus und aus seinem Kopf stieg Athene, die Göttin des Krieges und der Weisheit. Ich hoffe, dass unsere sterbenden Held*innen uns ein ähnliches Geschenk bereiten.